Am Abgrund
Prolog
Steve Caesare zuckte vor Schmerzen zusammen, als er seinen Ärmel hochkrempelte und die Hand auf den Griff seiner Waffe legte. Der Flur, in dem er sich befand, war von weißen Marmorwänden umgeben und mit einem dicken beigefarbenen Teppich ausgelegt, sodass er sich der Tür mehr oder weniger lautlos nähern konnte.
Caesare blickte zu einem der von der Decke hängenden Kronleuchter auf und suchte seine Umgebung nach Kameras ab. Wenn es sie gab, dann waren sie sehr gut versteckt. Seine Hoteluniform war ihm viel zu klein, und es schien, als ob seine breiten Schultern den Stoff jeden Augenblick zum Platzen bringen könnten. Jeder, der auch nur einen flüchtigen Blick auf den Monitor warf, würde sofort merken, dass hier etwas nicht stimmte.
Das Tivioli Mofarrej war eines der elegantesten Hotels in São Paulo und bei Weitem das teuerste. Es wurde nur von der betuchtesten Kundschaft genutzt und strahlte, wie es da über dem Stadtbild von Brasiliens reichster Stadt ragte, ein Gefühl von Macht und Prestige aus.
Er hatte zwei ganze Wochen gebraucht. Zwei Wochen, um den Mann zu finden, vor dessen Tür er jetzt in diesem Korridor stand. Miguel Blanco ließ es sich mit dem, was er von Mateus Alves, seinem ehemaligen Arbeitgeber und einem der reichsten Männer Südamerikas, gestohlen hatte, offensichtlich gut gehen. Nachdem er seinen ehemaligen Boss umgelegt hatte, war es ihm gelungen, beinahe einhundert Millionen brasilianische Reals von diversen Konten und Fonds abzuheben. Es handelte sich zwar nur um einen Bruchteil des Vermögens des alten Mannes, aber es war völlig ausreichend - auf jeden Fall genug, um nun der Elite anzugehören, die Blanco den Großteil seines Lebens beschützt hatte.
Einfach war das sicher nicht gewesen. Zugang zu Alves' Konten zu erhalten war das eine. Außerdem hatte Blanco dabei Hilfe gehabt. Viel schwieriger dürfte es gewesen sein, die Spuren zu verwischen. Dazu hatte Blanco Hilfe von mehreren guten Compadres gebraucht, die nicht nur äußerst diskret sein mussten, sondern auch von der Auflösung von Alves' unvorstellbarem Reichtum nicht schlecht profitierten.
Caesare war jedoch nicht auf das Geld aus. Er war aus einem anderen Grund hier. Der Mörder war genauso korrupt wie der Alte selbst, und Caesare hatte keinerlei Sympathie für die beiden. Nein, er befand sich aus nur einem einzigen Grund hier: Vergeltung.
Er stand jetzt vor dieser Tür, weil Blanco ihn auf dem Berg hatte umbringen wollen. Doch Caesare lebte. Nach einer zweiwöchigen Suche war es jetzt an der Zeit, ihm einen kleinen Überraschungsbesuch abzustatten.
Caesare näherte sich der Tür, sah aber weder eine Wache noch einen Aufpasser, was ihn stutzig werden ließ. Gäste, die in der Präsidentensuite nächtigten, verfügten normalerweise über einen Sicherheitsdienst. Aber wo befand sich Blancos? Der Mann war einmal Offizier beim brasilianischen Geheimdienst gewesen. Entweder war er viel zu selbstsicher, oder komplett paranoid. Wenn er paranoid war, wo warteten seine Sicherheitsleute?
Blanco war auf jeden Fall hinter dieser Tür. Zumindest war das der Stand der Dinge vor einer halben Stunde gewesen. Caesare hatte das Telefonsignal lokalisiert. Es war wenige Meter von dem Punkt, an dem er jetzt stand, gekommen, ehe es abrupt verschwunden war. Drei Meter von der Tür entfernt zog Caesare leise seine Glock .40 aus dem versteckten Halfter und legte den Zeigefinger auf den Abzug. Er neigte den Kopf zur Seite und checkte den Flur hinter sich ein letztes Mal aus dem Augenwinkel.
Als er zur Tür kam, näherte er sich seitlich und hielt die Waffe an der rechten Hüfte. Dann hob er sie mit einer sanften Bewegung und lehnte sich vor, um zu lauschen. Er hörte keinen Ton, keine Stimmen, keinen Fernseher. Nichts.
Als Blanco Rio de Janeiro verlassen hatte, hatte sich nur eine Person in seiner Begleitung befunden: Alves'