Die Chroniken der Seelenwächter - Band 9: Zwischen den Fronten (Urban Fantasy)
6. Kapitel
"Herr im Himmel, verzeih mir." William ächzte und zog die Klinge aus Ilais Herz, das er soeben zerteilt hatte. Der Oberkörper bäumte sich auf, Ilais Hände krallten sich in den Altar. William keuchte, als wäre er es, der die Schmerzen ertragen musste. Seine Hand zitterte, Ilais Blut tropfte von der Schneide, William wiederholte die Worte von eben, bestätigte sich selbst damit, dass er keine Sünde begangen hatte.
Keinen Mord!
Es war nötig! Es war nötig! Es war nötig!
Williams Kehle war trocken und rau. Plötzlich wog der Dolch das Tausendfache. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte gerade einem anderen Lebewesen ein Messer ins Fleisch gerammt! Einem Unschuldigen, wehrlosen, gebrechlichen Mann.
"Es ist alles in Ordnung", sagte er noch einmal. Das Zittern in seiner Stimme konnte er kaum unterdrücken. "Du gehst zu deinem Element." Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und streckte das Messer vor sich aus. Vorsichtig, damit kein Tropfen Blut von der Klinge fiel, lief er zu dem roten Becken, welches das Element Feuer beherbergte. Der Weg kam ihm wie ein Marathon vor. Seine Füße waren bleischwer, müde, der Körper ausgelaugt, zittrig.
Es war richtig so.
Endlich erreichte er das Becken, langsam tauchte er die blutverschmierte Klinge in die Flüssigkeit ein. Rot auf Rot. Blut für Feuer. "Bitte komm gesund wieder."
Wie auf Kommando begann die Flüssigkeit zu glühen. Der Kanal, der von dem Becken zum Altar führte, füllte sich mit flüssigem Feuer. William wusste, was geschehen würde. Bei seinem eigenen Ritual hatte er natürlich nichts miterlebt, doch bei Anna hatte er aufgepasst. Das Feuer arbeitete sich zum Altar vor, es strömte unter dem Stein hindurch, schwappte gegen die Kanten und floss langsam nach oben zu Ilais Körper.
Er ist nicht tot. Er geht nach Hause.
Williams Verstand arbeitete gegen ihn. Alles erschien so grausam, so endgültig. Wie konnte ein Körper überleben, wenn das Herz zerteilt war? Er wusste es nicht, niemand wusste es, aber es war Teil des Rituals und der Magie, die durch die Seelenwächter wirkte. Beende ein Leben, um ein neues zu beginnen . So war es seit Jahrtausenden.
Das Feuer kletterte den Altar hoch, umschloss Ilais Körper, seine Beine, seine Arme, seine Brust. Ilai zuckte nicht mehr. Das Auge war geschlossen, sein Atem hatte ausgesetzt. Jetzt gab es nichts mehr zu tun.
William lief zurück zum Altar. Je näher er kam, desto heißer wurde das Feuer. Es war eine Wohltat nach all den Strapazen. Ein Nachhausekommen, ein Ausruhen. Am liebsten hätte er sich mit auf den Stein gelegt und sich ebenfalls von den Flammen einhüllen lassen. Behutsam bettete er den Dolch zurück an seinen Platz und wartete.
Nun lag es an Ilai. Das Feuer würde die Erinnerungen und Erlebnisse aus den Zellen extrahieren und für immer konservieren. Sie würden in die Gemeinschaft zurückfließen. Ilai wäre ab heute ein Teil von allen künftigen Feuerwächtern, seine Erfahrungen würden durch sie wirken.
Nichts war verloren.
William beugte sich zu dem Körper hinunter und betrachtete ihn ein letztes Mal, bevor das Feuer ihn komplett verschloss. "Ich hoffe, ich sehe dich wieder."
Auf einmal schnellte Ilais Hand nach oben, packte William am Nacken und riss ihn zu sich. Er schrie vor Schreck, versuchte sich noch zu wehren, doch es ging alles zu schnell. William wurde mit in die Lava gezogen. Sofort umschloss ihn die Hitze. Angenehm und glühend zugleich. William suchte Halt, versuchte sich abzufangen, doch er stürzte bereits. Er wurde in das Element gezerrt, hinein in die Unendlichkeit. An einen Ort, von dem nicht alle Seelenwächter wiederkehrten.
&nb