Tod in Neverland
KAPITEL 16 (S. 181-182)
Ein unverhoffter, heftiger Eissturm fiel eines Abends über Manhattan her und mit dem ersten Vollmond der Jahreszeit zusammen. Der Sturm dauerte fast zwei Stunden. Er schlug mit unberechenbarer Schwere zu, wie eine Faust, die auf eine harte Oberfläche niedersaust, und ließ langsam zu einem nassen Gemisch aus Schneeregen und gefrierendem Regen nach, als die Nacht vollständig über die Stadt hereinbrach. Fußgänger drängten sich in den nächstbesten Unterschlupfmöglichkeiten. Andere versuchten vergeblich, sich ein Taxi zu rufen. Sekunden nach Beginn des Unwetters strömte eine Masse durchnässter Menschen durch den Haupteingang eines Macy's Kaufhauses. Erst später wurde festgestellt, dass in dem Tumult ein junges Mädchen mit einem Herzfehler zusammenbrach und starb.
Ihr Körper wurde von der Woge hektischer Bürger mehrere Meter mitgeschleift, bevor jemand ihre Leblosigkeit bemerkte. An der Kreuzung Fifth Avenue und 34. Straße bauten zwei Geschäftsleute in Anzügen einen Autounfall. In einem Anflug von Raserei, den der heftige Sturm kaum dämpfte, sprangen beide Männer aus den Fahrzeugen, die Gesichter rot wie Ampeln, die Augen groß und ungläubig. "Was sind Sie nur für ein verfluchter Idiot?", brüllte einer von ihnen. "Sie gottverdammter ...", setzte der zweite Mann an. Der Rest seiner Worte wurde von einem kräftigen rechten Haken abgeschnitten, den ihm der andere versetzte.
Als die Schlägerei vorüber war, blieben beide Männer genauso verbeult und zerschrammt wie ihre Autos zurück. Carlos Mendes beobachtete von seinem Bürofenster im Krankenhaus aus, wie sich der Sturm legte. Er hatte die Arbeit bereits vor einer Stunde beendet, seinen Aufbruch jedoch hinausgezögert. Irgendwann in der Nacht erblickte ihn eine der diensthabenden Krankenschwestern im Flur und schüttelte den Kopf. "Pflichtbewusstsein hat Grenzen, Doktor", meinte sie zu ihm. "Alles, was darüber hinausgeht, ist nur noch verrückt." Als das eisige Prasseln gegen die Scheibe in leichteren Schneeregen überging, wusste Mendes, dass er nicht für den Rest seines Lebens im Krankenhaus bleiben konnte. Nach Hause ... Nein – dorthin musste er nicht.
Er fuhr mit der U-Bahn zum Times Square, während ihm verschiedene abstrakte Gedanken durch den Kopf gingen. Und Nellie Worthridge. Lauf einfach durch die Straßen. Ich kann es wie ein Obdachloser machen – ein Arzt, der ein Doppelleben als Penner führt. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, nicht nach Hause gehen, nicht Marie unter die Augen treten zu können. Er wusste, dass seine Anspannung ihr zu schaffen machte, und er hasste sich dafür. Sein Heim.
Das Sandsteinhaus war zu klein und still, zu förderlich für langwierige Grübeleien. Und das war das Letzte, was er wollte. Seine Gedanken ängstigten ihn. Außerdem war ihm klar: Je länger er über die Worte der alten Frau sinnierte, desto mehr glaubte er daran. Oder vielleicht verlor er bloß wirklich nach und nach den Verstand. Heftige Böen schleuderten ihm Schneeregen entgegen, und er lief mit geducktem Kopf und den Händen in den Manteltaschen.