Phönix
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Sterne.
Callista Brooke liebte sie noch immer.
Auch wenn sie sie inzwischen mit anderen Augen sah.
Früher hatte sie sich stets gefragt, woraus die kleinen Lichter gemacht sein mochten, die das Himmelszelt erhellten - waren es Kerzen oder kleine Laternen? Oder womöglich nur Nadelstiche in einem Mantel, den die Nacht über die Welt breitete, um das Licht des Tages fernzuhalten?
Heute wusste Callista es besser.
Sie hatte gelernt, dass jedes dieser Lichter dort oben eine Sonne war, nicht weniger hell und strahlend als jene, die tagsüber am Himmel stand; dass um jede dieser Sonnen Welten kreisten, Monde und Planeten in einem Universum, das größer war, als sie oder jeder andere begreifen konnte; und dass die Erde, der Himmelskörper, auf dem sie lebten, lediglich ein Staubkorn in diesem unfassbar weiten Kosmos war.
Gleichsam über Nacht war Callistas Welt größer geworden.
Erst ein halbes Jahr war es her, da hatte sie noch geglaubt, dass das Dorf Moonvale und der große Wald ringsum die Grenzen ihrer Welt seien; dass es außer dem Wald und seinen Bewohnern nichts weiter gebe und dass jenseits der schützenden Palisaden des Dorfes nichts als ein grausamer Tod zu finden sei - eine Lüge, wie sie hatte herausfinden müssen.
Eine von vielen Lügen.
Nahezu alles, was Callista geglaubt und was ihr von frühester Kindheit an erzählt worden war, hatte sich als Lüge erwiesen. Als große Täuschung, aufrechterhalten von jenen, die in Wahrheit die Welt beherrschten: den Maschinen.
Und obwohl Callista ihr Leben lang geahnt hatte, dass mehr hinter alldem steckte, dass die Sterne mehr waren als winzige Lichter und dass die Welt jenseits des Waldes nicht endete, hatte die Wahrheit sie dennoch tief erschüttert. Die Erkenntnis, dass sie in einer Welt lebte, die von Krieg gezeichnet war - einem verheerenden Krieg der Maschinen gegen die Menschen, den die Menschen am Ende verloren hatten. Dass es außerhalb der Wälder noch immer Überreste ihrer Städte gab, die Ruinen einstmals mächtiger Metropolen, in denen geisterhafte Schatten hausten. Und schließlich die Erkenntnis, dass der Phönix, an den alle Menschen in Callistas Dorf geglaubt hatten, nicht existierte. Die alten Schriften mochten zwar recht haben, wenn sie behaupteten, dass es der Phönix gewesen war, der der Menschheit den Weg aus der Asche der Vernichtung gewiesen und ihr einen Neuanfang ermöglicht hatte. Was sie jedoch verschwiegen, war die Tatsache, dass der Phönix diese Vernichtung erst heraufbeschworen hatte. Und dass er selbst eine Maschine war - die größte und mächtigste Maschine, die jemals von Menschen gebaut worden war ...
All diese Erkenntnisse, all dieses neue Wissen war dazu angetan, Callistas Verstand in seinen Grundfesten zu erschüttern. Doch es gab zwei starke Motive, die sie antrieben, die ihr den Weg wiesen wie ein Licht in dunkler Nebelnacht. Zum einen war es die Liebe zu ihrem jüngeren Bruder Jona und die Verantwortung, die sie für ihn trug, seit ihre Eltern nicht mehr lebten. Und zum anderen ihr Durst nach Rache ...
Die Maschinen hatten ihr alles genommen. Nicht nur ihre Heimat und das Bild, das sie sich von ihrer Welt gemacht hatte. Sondern auch ihren Vater und ihre Mutter.
Und Lukan ...
An ihn zu denken, war noch immer schmerzhaft. Callista fühlte dann einen Stich im Herzen und eine fürchterliche Leere, ein grenzenloses Bedauern.
Lukan war immer für sie da gewesen, zuerst in Moonvale und später bei ihrer Flucht durch den Wald. Gemeinsam hatten sie die Wahrheit über diese Welt erfahren, hatten Gefahren getrotzt und dem Tod mehrfach ins Auge geblickt, und sie hatten sich geliebt. An vielem, das in ihrem früheren Leben geschehen war, hatte Callista später gezweifelt, nicht aber an ihrer Liebe zu Lukan. Sie war aufrichtig und echt gewesen, und sie hatte Callista Hoffnung und Trost gegeben ... bis zu jenem schicksalhafte