Der Wolf vom Bodensee
Weihnachten
Ich weiß, das sind meine letzten Tage. Schweißgebadet bin ich letzte Nacht aufgewacht. Aus einem Traum, der doch keiner war. Ich sah mich wie eine Statue am Ufer stehen, schön in Stein gemeißelt, anmutig stehe ich dort. In Ewigkeit gebannt der weite Blick über den See. Ich sehe mich dort stehen und stehe hinter mir, teile den Blick, aber nicht meine Gedanken. Schnell ein paar Zeilen, dachte ich im Traum und schrieb sie auf:
Der Anfang.
Der Anfang und der Anfang vom Ende.
Am Anfang ist alles leicht; am Ende auch. Nur das Dazwischen.
Ich sitze mit Kaffee am Tisch. Es ist Weihnachten. Meine letzten Tage. Vielleicht schon heute? Steht er draußen vor der Tür und wartet auf mich? Ich bin Jana Smetlin. Ich war hier. Ich bin nur noch ein Blick auf etwas, das weit vor mir liegt.
Immer wieder muss ich an Penthesilea denken, die Amazonenkönigin in Kleists Drama, diese tragische Figur, die ihren Geliebten tötet, weil die Gesetze es ihr vorschreiben, dabei hatte er sich ihr ergeben, aus Liebe, um sie ganz für sich zu gewinnen. Penthesilea, der Name ist wie Musik, ich sage ihn manchmal mehrmals hintereinander. Penthesilea, Penthesilea, Penthesilea. Ob ich ihm auch in den Tod folge? Heute? Ist heute schon mein letzter Tag? Das Schweigen draußen ist unheimlich. Sie werden kommen.
Am Anfang war alles leicht, am Ende erwartungsgemäß.
Das Dazwischen, ein nicht enden wollendes Intermezzo der Verwirrung. Und der Einsamkeit. Eine tragische Errungenschaft meiner Talente.
Anfangen.
Ich grübelte. Über dich und den Anfang vom Ende.
Am Anfang war alles leicht.
Dazwischen.
Du wirst kommen. Ich warte. Geschrieben ist nun alles.
Roman Enzig verließ seine Wohnung in der Talgartenstraße und überquerte die Laube. Es war nicht viel los um diese frühe Uhrzeit am ersten Weihnachtsfeiertag, aber er hatte es in seiner Wohnung nicht mehr ausgehalten. Der Weihnachtsabend im Krankenhaus mit all seinen Freunden war schön gewesen. Sie waren einander wirklich nähergerückt in diesem letzten Jahr im Präsidium, und Enzig hatte zum ersten Mal gedacht, dass er darüber hinwegkommen würde, dass er vor knapp eineinhalb Jahren von der internen Ermittlungsbehörde als Profiler für die Mordkommission Konstanz angeheuert worden war, um Hauptkommissar Paul Sito im Auge zu behalten. Enzig hatte lange gedacht, dass dieser Makel auf ewig an ihm haften würde, doch seit er Sito reinen Wein eingeschenkt hatte, fühlte er sich nicht nur besser, sondern auch rehabilitiert. Seine Loyalität galt seinem Kollegen und Partner und inzwischen auch Freund Paul Sito, mit dem er zwei der schwersten Fälle seiner Karriere gut bestanden hatte, auch wenn er noch immer nicht hinter sein Geheimnis gekommen war. Irgendwann, so wusste Enzig inzwischen, da würde Sito ihn einweihen, und dann wäre das Band zwischen ihnen noch stärker. Enzig seufzte. Er hatte keine Freunde, auch das gemeinsame Arbeiten war ihm bislang schwergefallen. Hier in Konstanz schien sich dieses Blatt endlich zu wenden.
Halb zehn an einem Feiertag im Winter. Enzig erreichte die Fußgängerzone auf dem Weg zur Marktstätte, ohne einem Menschen begegnet zu sein. Auch mal ganz schön. Einsamkeit auf den Straßen war anders als die Einsamkeit in einer Wohnung, seiner Wohnung, die er vor einigen Monaten für sich und Anna renoviert hatte und in der er nun allein lebte.
An der Marktstätte blieb er stehen. Ein Mann stand dort und studierte die Schrifttafel. Enzig wurde bewusst, dass er zwar hier aufgewachsen war, aber noch niemals diese Tafel gelesen hatte. Er schämte sich ein wenig und erwog für einen Moment, sich dazuzustellen, ging dann aber schnell weiter. Wer weiß, vielleicht hätte der andere ihn in ein Gespräch verwickelt, und irgendwie sah dieser