Doppelabsturz
HOCHMUT KOMMT VOR DEM FALL
Die Sonne stach durch den Dunst und brannte auf seiner Haut. Für die Berge ringsum hatte er kaum einen Blick, selbst auf den grün schimmernden See inmitten der Felsen verschwendete er keine Zeit. Hajo Eckerth kämpfte darum, den Abstand zu den Männern - und einer Frau - vor ihm zu verkürzen. Heute war erst der zweite Tag, und schon sehnte er die Abreise herbei. Er hasste das jährliche Managertraining.
Diesmal quälten sie ihn im Montafon, in den Österreichischen Alpen. Frühmorgens waren sie aufgebrochen, zwanzig Marktforscher von OM-Research, allesamt Spitzenmanager der europäischen Töchter des Konzerns.
Mit zweckmäßigen Schuhen kletterten sie über die Steine. Ihre Rucksäcke waren mit Wasserflaschen und isotonischen Getränken bepackt. In den Taschen ihrer Kniebundhosen steckten Trillerpfeifen, in die das Logo der Firma und das Anfangs- und Enddatum der Exkursion eingraviert waren.
Die meiste Zeit des Jahres arbeiteten sie daran, ihren Kunden mit Hilfe ausgeklügelter wissenschaftlicher Methoden zu zeigen, wie deren Produkte noch erfolgreicher am Markt positioniert werden könnten. Das war ihr Job. Diese Woche gemeinsamer Bergsteigerei sollte angeblich die Kommunikation zwischen den Kollegen aus den verschiedenen Ländern fördern. Hajo Eckerth war da skeptisch. Zumindest fand er den Aufwand im Verhältnis zur Wirkung übertrieben.
Vor ihm stiegen sie jetzt im Gänsemarsch hoch, ihre Stimmen hallten über den Berg:
"Bleibt auf dem Weg, hier dürfen nur die Kühe trampeln, wo sie wollen."
"Keine Sorge, das sind wir gewohnt."
"Wir sind schon im Gleichschritt."
Pol Dellis aus Brüssel, der CEO, stieg voran und bestimmte das Tempo. An den Zurufen beteiligte er sich nicht, doch mit Sicherheit hörte er genau zu, was seine Leute sagten, und achtete auf ihren Ton.
Als der Chef gestern Abend davon geschwärmt hatte, wie diese Woche gemeinsamer Strapazen das menschliche Band zwischen ihnen allen stärken würde, hatte Hajo Eckerth innerlich gestöhnt. Er glaubte nicht, dass sportliche Anstrengungen die Zusammenarbeit verbesserten. "Ein gemeinsames Besäufnis tut's auch, wenn ihr mich fragt", dachte er. Doch ihn fragte ja keiner. Er war nicht in den Planungskreis gerufen worden, dort saß sein Freund Günter. Ein schöner Freund wohlgemerkt, der dem großen Boss nach dem Munde redete und so tat, als sei der Erfolg der Gesellschaft allein sein Verdienst. Mit dieser Masche hatte er vor ein paar Jahren, als der damalige Chef von OM-Frankfurt in Pension geschickt worden war, den Geschäftsführerposten gekapert. Hajo hatte sich mit dem Stellvertreterjob abfinden müssen, obwohl alle wussten, dass er der bessere Wissenschaftler war. Nach wie vor wurmte ihn die Schlappe. Doch inzwischen hatte er den Vorteil erkannt, in der zweiten Reihe, sozusagen im Windschatten, zu fahren. Er stand nicht unter dauernder Beobachtung und ständigem Beschuss der Chefs in Brüssel. Das war nicht sein Problem.
Seit Beginn der Tour hatte Hajo seinen Freund Günter nur von weitem gesehen. Der turnte vorne bei den wichtigen Leuten herum. Die Kletterei machte ihm nichts aus, sie machte ihm Spaß!
Schwer atmend betrat Hajo die Aussichtsplattform, wo der Finanzchef, engster Mitarbeiter des CEO, die Kollegen versammelt hatte, um ihnen die nächste Etappe des Aufstiegs zu erläutern. Der Finanzchef überragte sie alle, wirkte durchtrainiert und zäh. Als erfahrener Bergsteiger hatte er die Route geplant. Sie sei nicht schwer, etwas zum Aufwärmen, hatte er gestern gesagt. Nur ein paar steile Abschnitte, keine Kletterpartien, die würden erst am Ende der Woche folgen.
Klettern am Seil! Hajo grauste es davor. Er mochte gar nicht daran denken, was ihm noch alles drohte.
Während er mit halbem Ohr zuhörte schob Hajo die Daumen unter die Träger seines Rucksacks. Die Luft roch nach Heu. Er sah sich um. Vor ihnen führte ein bequem breiter Weg über eine Alm. Vorbei an einer Hüt