Kommissar Lavalle - Der erste Fall: Im Haus des Hutmachers
Montag, 26. Juli
Henri Lavalle war, wie so oft in einer Mordnacht, der Letzte. Sein kleines Büro roch nach Staub, Rauch und feuchten Akten.
"Guten Morgen, Signor Lavalle." Auf seinem morgendlichen Rundgang schloss der italienische Hausmeister die einzelnen Büros auf und legte Henri die aktuellen Zeitungen auf den Tisch. Der Blick des Kommissars fiel auf einen Artikel über sein Spezialgebiet.
Was unterscheidet weibliche und männliche Serienmörder?
Professor Müller, Leiter der kriminologischen Abteilung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat in detaillierten Studien herausgearbeitet, dass männlichen wie weiblichen Serienmördern wesentliche Merkmale wie eine ausgeprägte Kränkbarkeit, emotionale Armut, schwaches Selbstwertgefühl und eine starke Labilität zu eigen sind. Typischerweise stammen sie aus schwierigen Familienverhältnissen. Der erste gravierende Unterschied zeigt sich laut Professor Müller im Erwachsenenalter. Die Serienmörderinnen seien im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant oft sehr gut in die Gesellschaft integriert, hätten einen ausgesprochen großen Freundeskreis, zeigten sich stets hilfsbereit und engagiert und würden ausnahmslos als verantwortungsbewusst gelten.
Besonders bemerkenswert sei, so Professor Müller, der Unterschied ihrer Mordmotive. Demnach mordeten Männer, um zu beherrschen, während Frauen mordeten, um sich nicht beherrschen zu lassen. Die Serienmörderin töte mit dem Ziel der Selbsterhaltung, wobei ihr der Mord im Moment der Tat als das einzige und geeignete Mittel scheine, sich und ihr Leben zu schützen und zu erhalten.
Wenig später verließ Henri Lavalle das Polizeipräsidium und machte sich auf den Weg zum Rheinhafen. Es war einer dieser seltenen Tagesanbrüche, wenn ein großer Temperaturunterschied zwischen Luft und Rheinwasser den gewaltigen Strom in dicken, weißen Nebel hüllte. Der Klang der Nebelhörner von den Containerschiffen und das gedämpfte Plätschern des nicht sichtbaren Wassers erzeugten eine ganz besondere Stimmung, die ihn stets schaudern ließ. Er schlenderte vom Landtag zum Rheinturm, dessen Kuppel im Nebel verschwand, und weiter in Richtung Medienhafen, wo die Tochter der Ermordeten lebte, der er gleich die Todesnachricht würde überbringen müssen.
Henri kannte den Hafen noch, als die Schönen und Reichen dieses Viertel mit den Eckkneipen tunlichst mieden und die Kriminalitätsrate dort weit über dem Düsseldorfer Durchschnitt lag. Sein Lieblingsrestaurant, Roberts Bistro, hatte schon früh die Zeichen erkannt und sich auf der Hafenmeile eingemietet, obwohl die Gäste noch durch Baustellen und Schlamm fahren mussten, um in den Genuss seiner Küche zu kommen. Danach waren Schritt für Schritt neue Restaurants und Szenekneipen hinzugekommen, während die ersten zwischen die alten Hafengebäude gezwängten Bürohäuser entstanden. Der WDR mit seinem blauen Aquarium, wie Henri es nannte, hatte als Erstes gezeigt, dass Neues auch schön sein kann.
Er hatte schon zum zweiten Mal auf den roten Klingelknopf neben der Sprechanlage gedrückt, als sich endlich jemand meldete.
"Ja, bitte?"
"Ist dort Stahl?"
"Was wollen Sie denn um diese Uhrzeit? Es ist morgens um halb sieben!"
"Henri Lavalle von der Kriminalpolizei. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen."
"Fahren Sie mit dem Aufzug in den sechsten Stock, dort ist eine Tür, an der Sie nochmals klingeln müssen. Ich drücke dann auf."
Als er Ann Stahl einige Minuten später gegenüberstand,