Lassiter - Folge 2101
Endlich hatte er sie aufgescheucht.
Es war ein tagelanges gegenseitiges Belauern gewesen, und allem Anschein nach hatte sie die schwächeren Nerven. Das war beileibe nicht selbstverständlich. In diesen Zeiten des Umbruchs - man schrieb das Jahr 1885 - gab es Frauen, die härter waren als mancher Mann. Lassiter hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen, schon so manches Mal. Was die neue weibliche Härte betraf, konnte ebendies durchaus auch auf Dolores zutreffen. Immerhin hatte sie, dem Hörensagen nach, mindestens zwei Jahre in der Wildnis zugebracht. Nichts konnte Körper und Geist mehr stählen als eine derart extreme Erfahrung. Sie war in den Wäldern und in den Bergen gleichermaßen zu Hause wie hier in der Wüste. Allein deshalb musste sie sich in dem rauen Land mindestens genauso gut auskennen wie die Indianer. Vielleicht kannte sie sich sogar besser aus, denn selbst die roten Ureinwohner lebten nicht in den unwirtlichsten Gegenden, sondern eher dort, wo es Wasser und fruchtbaren Boden gab. Dolores aber war imstande, sich in einer Felsenhöhle zu verkriechen und auf rätselhafte Weise darin zu verschwinden, obwohl die Verfolger das Innere gründlichst durchsuchten und alle Ausgänge tagelang besetzt hielten.
Er aber hatte Dolores in die Enge getrieben. Immerhin. Darauf konnte er sich etwas einbilden. Bislang hatte das keiner geschafft. Ob es eine Erfolgsgarantie sein würde, war allerdings eine andere Frage. Die Brigade Sieben betrachtete ihn als ihren besten Mann, doch er selbst hasste Lobeshymnen, die auf ihn gesungen wurden. Er machte seinen Job so gut er konnte, und es war ihm unangenehm, wenn er für etwas in den Himmel gehoben wurde, was für ihn selbstverständlich war.
Vor drei Jahren war Dolores in New Mexico von Apachen entführt worden. Die indianischen Rebellen hatten alle Passagiere der Stage Coach umgebracht. Nur Dolores war am Leben geblieben, weil der Anführer der Rebellenbande sie zu seiner Squaw machen wollte. Dieser Anführer war Santano, ein Häuptlingssohn und glühender Gefolgsmann Geronimos. Es gab zwar keine Augenzeugen, die diese Gerüchte bestätigen konnten, doch die Tatsache, dass Dolores nicht unter den Toten des Überfalls gefunden worden war, und die Berichte, dass Santano und seine Bande ihre Raubzüge bis ins Navajo-Land im nördlichen Arizona ausdehnen sollten, waren Nährstoff für die abenteuerlichsten Erzählungen - Geschichten wie die des Wolfsmädchens Dolores, natürlich auf schauerlichste Weise ausgeschmückt.
Sie hatte selbst dazu beigetragen, eine geheimnisvolle Unbekannte zu bleiben.
Sie war inkognito gereist, hatte es irgendwie geschafft, ihren Namen nicht nennen zu müssen. So stand in der betreffenden Passagierliste von Wells Fargo lediglich der Vermerk "Lady aus Baltimore". Eine Abschrift dieser Passagierliste existierte in der Postkutschenstation von Albuquerque, New Mexico, wo die Kutsche ihren letzten Aufenthalt gehabt hatte, bevor sie überfallen worden war. Normalerweise glaubte Lassiter solche Geschichten nicht. Aber in diesem Fall blieb ihm keine andere Wahl, weil er einen offiziellen Auftrag erhalten hatte, das Wolfsmädchen zu finden und an einen neutralen Ort in Washington DC zu bringen.
Der Auftrag gefiel ihm nicht.
Allein deshalb hatte er vor, ihn so schnell wie möglich zu erledigen.
Lassiter grinste und trommelte die Stiefelabsätze in die Flanken seines Grauschimmels. Das kräftige Tier preschte hinter dem Felsenhügel hervor, in dessen Schutz der Mann der Brigade Sieben die nackte Frau beobachtet hatte. Lange war er ihr gefolgt, ohne dass sie es mitbekommen hatte. Nun aber hatte sie ihn bemerkt. Es war, als hätte sie Augen im Hinterkopf, verborgen unter ihrer schwarzen Mähne. Vor allem aber hatte sie mit untrüglichem Instinkt erkannt, dass sie in ihrem Versteck in der Felsensenke nicht mehr sicher war. So ergriff sie die Flucht vor ihm - auch deshalb, weil er ihr nicht klarmachen konnte, dass sie von ihm nichts zu befürcht