Schlangengift
EINS
Garmisch-Partenkirchen, Oberbayern
Amerikanische Besatzungszone
März 1946
Für diese besondere verdeckte Aktion hatte Kriminalermittler Mason Collins die Figur Kurt Wenger erfunden, einen heruntergekommenen Deutschen, der sich mit müden Schritten und dem lustlosen Blick vorwärtsbewegte, den der Hunger und die Aussicht in eine trostlose Zukunft mit sich brachten. Er trug einen fadenscheinigen Mantel aus dem Besitz eines ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, der auf solch irdische Dinge nicht mehr angewiesen war, und auf dem Kopf einen Filzhut, der höchstwahrscheinlich durch ähnliches Kriegsgeschick verwaist war. Von einem Dreitagebart abgesehen hatte Mason keinen Bedarf an Perücken oder anderen Vorrichtungen, die den optischen Eindruck veränderten. Bei der Verwandlung in eine andere Persönlichkeit kam es vor allem auf Haltung, Einstellung, Gesichtsausdruck und Eigenarten an.
Der Mann, den er beschattete, Sergeant Carl Olsen, ging zehn Meter vor ihm. Mason behielt ihn im Auge, indem er durch die Menge vor ihm schaute und flüchtige Blicke auf seinen runden Kopf mit dem schwarzen Haar erhaschte, das von seiner kakifarbenen Dienstmütze bedeckt war. Mit seinen einsachtundneunzig und hundertzehn Kilo teilte Olsen die ihm entgegenkommende Menge wie ein Schneepflug, während Mason ihm in seinem Windschatten folgte - was kaum eine Herausforderung für Masons Beschatterfähigkeiten war, aber Tarnung vor Olsen war nicht sein vorrangiges Ziel. Masons Hauptinteresse galt den Männern, die Olsens Vorankommen aus dem Schatten und von strategischen Positionen aus beobachteten, Männern, die viel gefährlicher und schlauer als der Sergeant waren.
Masons Partner, Specialist Gil Abrams, hatte von der anderen Straßenseite eine bessere Sicht auf Olsen. Abrams war aus den Reihen der Militärpolizei gekommen, um unter Masons Anleitung als CID -Ermittler zu arbeiten. Sein scharfer Verstand und seine beharrliche Zielstrebigkeit waren Mason aufgefallen, aber er hatte immer noch eine Menge zu lernen, was die Feinheiten der Beschattung betraf, besonders bei jemandem wie Olsen, der an Mord und schwere Körperverletzung mit der gleichen Leidenschaftslosigkeit heranging wie ans Binden seiner Schnürsenkel. Nervöse Anspannung verleitete Abrams dazu, Olsen zu oft ins Auge zu fassen, wobei er dann und wann mit Fußgängern kollidierte oder knapp einem vorbeifahrenden Fuhrwerk oder Armee-Jeep auswich. Er trug einen Anzug aus grauer Wolle und einen langen schwarzen Mantel, der an seiner hoch aufgeschossenen Gestalt zu hängen schien. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war sein Körper der eines Mannes geworden, während sein Gesicht nach wie vor etwas Engelhaftes hatte, sodass er Mason seiner Erwachsenenkleidung zum Trotz an ein zu groß geratenes Kind aus einem Roman von Charles Dickens erinnerte.
Olsen hatte sie in den ärmeren und deshalb schäbigeren Teil der Stadt geführt, eine Gegend, die zahllose kleine Gauner als Zuhause bezeichneten, wo der Schwarzmarkt blühte und der uneingeweihte Passant wegen ein paar Reichsmark überfallen und im Rinnstein liegen gelassen werden konnte. Improvisierte Stände aus Segeltuch und Holz, Zelten und Anbauten machten sich auf den Bürgersteigen breit und nötigten die Fußgängerscharen dazu, auf die Straße auszuweichen. Fuhrwerke, Karren und Fahrräder waren inzwischen die einzigen Transportmöglichkeiten, die für die meisten Deutschen erhältlich waren, und sie wetteiferten mit den Fußgängern in diesem Teil der Stadt um den verfügbaren Platz, die meisten überladen mit geborgenem Holz oder den spärlichen Habseligkeiten einer Familie. Straßenverkäufer verhökerten ihre Waren in einem Dutzend Sprachen: geklaute Kohle, verschnittenes Mehl oder aus von amerikanischen Soldaten weggeworfenen Kippen gedrehte Zigaretten. Männer und Frauen gingen vorbei und öffneten ihre Mäntel, um Uhren, Fotoapparate und Schmuck vorzuzeigen, während da