Crown of Lies
1. KAPITEL
"Du kannst deine Tochter am Wochenende nicht einfach so mit zur Arbeit bringen, Joe."
"Sagt wer?"
Steve verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, streng zu wirken, aber seine Mühe war vergebens. "Sagst du selbst."
Ich schlang die Arme um meinen in Rüschen gehüllten Oberkörper, mein Blick flog wie ein Volleyball zwischen Dad und dem Mann, der ihm bei der Leitung seiner Firma half, hin und her. Mit durchgedrücktem Rücken wartete ich darauf, dass sie wütend die Stimmen erhoben, aber ihre nicht mehr jungen Gesichter blieben fröhlich.
Seit Moms Tod vor vier Jahren reagierte ich empfindlich auf Wutausbrüche. Ich hasste es, wenn Dad laut wurde oder Leute sich vor aller Augen stritten.
Dad legte einen Arm um meine mageren Schultern und zog mich an sich. "Und wann genau soll ich gesagt haben, dass ich meine liebe Tochter samstags nicht mit zur Arbeit bringen kann, Steve?"
Steve zwinkerte mir zu. Seine dunkelblonden Haare waren kurz geschoren, der Schnurrbart dafür umso buschiger. "Als du die Hausordnung für deine Firma geschrieben hast, Joe. Es steht im Kleingedruckten."
Ich wusste, dass sie nur Spaß machten - auch wenn ich das Spiel nicht verstand. Ich war schon an sämtlichen Wochentagen im Büro gewesen. Auch samstags und sonntags. Aber weil sie erwarteten, dass ich ihnen ihre kleine Komödie abkaufte, tat ich ihnen den Gefallen.
Ich erlaubte mir, mich jünger zu geben, als ich mich fühlte - eigentlich war ich noch ein Kind und sollte noch nicht viel von den Angelegenheiten Erwachsener verstehen.
Moms Tod und die Tatsache, dass ich schon als kleines Mädchen viel Zeit in der Firma verbracht hatte ... beides zusammen hatte dazu geführt, dass ich vor allem zwei Ziele verfolgte: in die Pubertät zu kommen und erwachsen zu werden. Meist wurde ich bereits als Erwachsene behandelt und benahm mich auch so, heute aber machte es mir nichts aus, jünger zu tun, weil ich zur Abwechslung mal tatsächlich jünger sein wollte .
Ich wollte weinen dürfen, weil der Tag heute eine Riesenenttäuschung war, und wenn ich ein Kind war, durfte ich meinen Kummer zeigen. Als Erwachsene musste ich ihn in mich hineinfressen und so tun, als machte mir das alles nichts aus.
Der Grund meiner Traurigkeit war total blödsinnig. Eigentlich sollte es mich nicht so sehr aus der Fassung bringen - eigentlich wusste ich es doch besser. Doch Dad hatte unsere dumme Geburtstagstradition vergessen, und jetzt wusste ich nicht, wie ich ihm sagen sollte, wie traurig ich darüber war, ohne wie ein schmollendes Kind zu wirken, das nicht zu schätzen weiß, was es alles hat.
"Hausordnung?", meldete ich mich zu Wort und sah zu Dad hoch. "Du hast eine Hausordnung geschrieben, so wie die in der Schule? Stehen in deiner genauso spießige und strenge Vorschriften darüber, wie lang die Socken sein dürfen und wie die Uniform aussehen muss?" Mit einem Blick auf Steves ungebügeltes Hemd und die zerknitterte Hose rümpfte ich die Nase. "Und wenn das so ist, warum bist du nicht entsprechend angezogen?"
Dad trug eine frisch gebügelte Hose, eine graue Weste und einen Blazer mit Marinestreifen an den Ärmeln. Manschetten und Bügelfalten saßen militärisch korrekt.
Unter all den anderen Anzugträgern in seinem Hochhaus stach er deutlich heraus, vor allem im Vergleich mit Steve in dessen knittriger Pracht.
Was nichts Neues war.
Dad achtete, solange ich zurückdenken konnte, stets auf eine makellose Erscheinung. Sogar auf den Fotos, auf denen er mich nach meiner Geburt, noch im Krankenhaus, auf dem Arm hielt, trug er einen dreiteiligen Anzug und eine Chrysantheme (Moms Lieblingsblume) im Knopfloch.
Steve kicherte. "Du musst eine Schuluniform tragen, Elle?"
Er wusste es. Er hatte mich nach der Schule schon in meiner verhassten karierten Herrlichkeit gesehen.
Ich nickte. "Ich hasse sie. Sie kratzt und ist häs