Das Fell der Tante Meri
1.
D ie Tante Meri ist im Grunde genommen eine liebe Person gewesen. Der Ferdl hat sich das immer wieder gesagt. Er ist sich nicht sicher gewesen, ob das irgendwer anders auch so gesehen hat, aber er, der Ferdl, hat es gewusst. Er würde sie doch irgendwo vermissen, jetzt, wo sie gestorben ist. Der Ferdl hat sie schon lange gekannt, schon seit er ganz klein gewesen ist, und immer ist sie ihm gleich alt vorgekommen. Mit ihren Blumenschürzen und ihren auftoupierten Haaren, mit den zwei weißen Hunderln, die im Winter '63 kläglich verendet sind nach dem Zusammenstoß mit einem Lastwagen, mit ihren Stützstrümpfen und den goldenen Schnallen an den weißen Hauspatschen. Er hat sich dunkel erinnern können, wie sich die Frisur von der Tante Meri angefühlt hat. Die Frisur ist überhaupt das Prominenteste an der ganzen Gestalt gewesen, gegens Licht hat nichts durchgeschienen, so eng sind die Haare miteinander verfilzt gewesen. Groß ist ihre Frisur gewesen und bedrohlich und voller Haarspray, und wenn sich die Tante Meri bewegt hat, dann hat die Frisur mitgewackelt. Als Kind hat er ihr einmal draufgreifen dürfen auf den Haarturm – das hat er aber nur einmal gemacht. Es hat sich angefühlt wie etwas Totes unter seinen Händen. Daraufhin hat es der Ferdl bleiben lassen.
Der Ferdl hat ein bissl ein schlechtes Gewissen gehabt bei solchen Gedanken. Eigentlich hat ihm die Tante Meri nie etwas Schlechtes wollen. Er hätt nicht so böse denken sollen über sie. Wenn er ein braver Bub gewesen ist und ihr am Nachmittag ein bisschen etwas vorgelesen hat aus seinem Schulheft, dann hat sie ihm einen Keks gegeben. Und wenns ganz hoch hergegangen ist, hat sie ihm eine kleine Puppentasse serviert, mit Blütendruck an den Seiten und Goldrändchen; eine Tasse, die ganz mit Schlagobers gefüllt gewesen ist. Die Tante Meri hat dick knackenden Kristallzucker drübergestreut und ein kleines Goldlöfferl dazugegeben, und dann hat ers essen dürfen. Das muss ganz außerordentlich gut gewesen sein für ihn als Buben, weil an das hat er sich noch genau erinnern können. An alles, bis zur rosa Blütendeko am Porzellan und dem Knacken von den Kristallzuckerkörnern zwischen seinen Milchzähnen.
Der Ferdl ist oft bei der Tante Meri gewesen; immer dann, wenn seine Mutter gesagt hat, er soll jetzt hinübergehen, er schuldet es der Tante Meri. Er hat die Mutter einmal gefragt, wie viel er ihr schuldet und ob er es vielleicht von seinem Taschengeld bezahlen kann, anstatt dass er hinübergeht, aber die Mutter hat ihn nur bei der Tür hinausgeschoben. Mit dieser leichten Verachtung, die nur für die Besuche bei der Tante Meri reserviert gewesen ist, hat sie ihn an der Hand die paar Straßen hinübergezogen. Es muss sein, hat sie gesagt. Der Ferdl hat sich schwer in die Hand gehängt, an der ihn seine Mutter gehalten hat. Er wär lieber zu Hause geblieben, obwohl es bei ihm zu Hause auch nicht so aufregend gewesen ist. Jetzt hab dich nicht so, hat die Mutter gesagt und mit der ihr eigenen Unruhe an seiner Hand gerissen, bis er sich doch noch in Bewegung gesetzt hat.
Der Ferdl hat immer gedacht, die beiden sind Freundinnen gewesen. Im Nachhinein ist ihm klar geworden, dass das nicht so ganz gestimmt haben dürfte. Wenn ers recht bedacht hat, dann hat er nicht einmal gewusst, ob die Tante Meri seine richtige Tante gewesen ist. Richtig herzlich sind die zwei nie miteinander gewesen, und trotzdem ist die Mutter immer mit ihm hinübergegangen. Das sind natürlich alles Sachen gewesen, die fallen einem als Kind in dieser Form nicht auf. Aber jetzt hat er daran gedacht, jetzt, in dieser komischen Situation, und sich zum ersten Mal wirklich gefragt, was es auf sich gehabt hat mit der Tante Meri. Und diese Frage hat dem Ferdl Angst gemacht.