Die fernen Tage
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E ine Woche nach meiner Ankunft in Kairo zeigte man mir die Pyramiden, wo ich Frances zum ersten Mal begegnete. Das war im Januar 1922, und Miss Mackenzie, die auf unseren Ägyptenreisen in loco parentis meine Betreuung übernahm, hatte den Ausflug mit größter Sorgfalt geplant. Sie war überzeugt davon, dass es heilsam wäre, wenn ich die Pyramiden zu sehen bekäme – "eines der größten Wunder der Antike, das musst du dir stets vor Augen halten, meine liebe Lucy" –, besonders wenn ich sie in all ihrer Pracht erblickte, und das hieß bei Sonnenaufgang. Die Pyramiden würden mich auf andere Gedanken bringen, würden mich begeistern, würden mich schlagartig ins Leben zurückholen. Sie wären Anreiz, wieder mit der Welt in Kontakt zu treten. Sechs Tage hatte Miss Mackenzie den Ausflug vor sich hergeschoben, da ihr meine Kräfte noch nicht hinreichend wiederhergestellt erschienen; doch am siebten Tag war der große Moment endlich gekommen.
Miss Mack, die im Krieg als Krankenschwester gearbeitet hatte, glaubte nicht nur an die Pyramiden, sondern auch an Zeitpläne. Ordnung hatte für sie eine therapeutische Wirkung. Also wurde der Tag minutiös durchorganisiert. Die Liste, die sie in ihrer adretten, rundlichen Handschrift verfasst hatte, las sich folgendermaßen:
5 Uhr: Pyramiden von Gizeh. Danach sofortiger Aufbruch.
Mittag: Picknick bei der Sphinx, im Schatten ihrer Vorderpfoten.
14:30 Uhr: Rückkehr zum Shepheard's Hotel. MITTAGSRUHE , unbedingt einzuhalten.
16 Uhr: Tee auf der berühmten Hotelterrasse. Gelegenheit für conversazione .
17 Uhr: Besuch von Madame Maschas legendärer Ballettklasse, auf persönliche Einladung der berühmten Dame selbst. Dauer: eine Stunde. Nutzen: unschätzbar.
"Ehrlich gesagt, Lucy", sagte Miss Mack, "sind meine Kontakte in Kairo ein wenig eingerostet, obwohl ich ja eine große Ägyptenkennerin bin. Wir brauchen ein entrée , mein Schatz. Freunde." Traurig betrachtete sie ihre Liste. "Ein wenig Unterhaltung."
Ich meinerseits hatte vollkommen vergessen, was "Unterhaltung" bedeutete. Die Erinnerung daran hatte sich im Nebel, der meinen Geist damals eintrübte, verflüchtigt, aber als gehorsames Kind war ich dankbar für Miss Macks Elan – ihren "Pep", wie sie selbst es nannte. Mir war bewusst, dass meine Lustlosigkeit sie beunruhigte und dass sich hinter all ihrer minutiösen Planerei auch Sorge verbarg, wenn nicht gar Angst. Daher tat ich alles, um sie zu beruhigen. Ich stand in aller Herrgottsfrühe auf, als es in Kairo noch dunkel war, ließ mich anstandslos mit Kölnisch Wasser einsprühen, was die Fliegen fernhalten sollte, und nahm lange Socken und wüstentaugliche Schuhe in Kauf. Auch die Baumwollhandschuhe zog ich bereitwillig an. "Und steck niemals die Finger in irgendwelche Spalten, Lucy. Die Steine der Pyramiden sind gefährlich – du musst ständig vor Skorpionen auf der Hut sein." Dann ließ ich mir noch den Panamahut aufsetzen, der mich vor der sengenden ägyptischen Sonne schützen würde – so zumindest lautete die Begründung, die Miss Mack mir gegenüber stets vorbrachte. Als ich schließlich komplett ausstaffiert war, führte sie mich vor den großen Kippspiegel, in dem wir beide mich betrachteten. Sollte ich den Hut abnehmen und das Desaster meiner Haare offenbaren? Das kleine Mädchen im Spiegel begegnete meinem Blick. Es war elf Jahre alt, wirkte aber eher wie sieben: dürr wie ein Stock, die Nase verkniffen, die Augenpartie argwöhnisch. Die reinste