Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Dramen + Gedichte + Autobiografie + Briefe
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Inhaltsverzeichnis
"So ein Kanari hats gut", dachte Agnes. "Ich wollt, ich könnt singen!" fuhr sie fort und setzte sich apathisch auf den einzigen Stuhl, der krächzte, aber sie meinte nur: "Zerbrich!" So müde war sie.
Der Stuhl ächzte jämmerlich, er war nämlich sehr zerbrechlich, denn der Kastner hatte ihn mal aus Wut über die Tante zerbrochen und die Tante hatte ihn vor vier Wochen bloß provisorisch zusammengeleimt. Agnes zog sich aus, so langsam, als wöge jeder Strumpf zehn Pfund.
Ihr gegenüber an der Wand hing ein heiliges Bild: ein großer weißer Engel schwebte in einem Zimmer, das auch verwanzt sein konnte, und verkündete der knieenden Madonna: "Bei Gott ist kein Ding unmöglich!" Und Agnes dachte, Eugen habe wirklich schön achtgegeben und sei überhaupt ein lieber Mensch, aber leider kein solch weißer Engel, daß man unbefleckt empfangen könnte. Warum dürfe das nur Maria, warum sei gerade sie auserwählt unter den Weibern? Was habe sie denn schon so besonderes geleistet, daß sie so fürstlich belohnt worden ist? Nichts habe sie getan, sie sei doch nur Jungfrau gewesen und das hätten ja alle mal gehabt.
Auch sie selbst hätte das mal gehabt.
Noch vor drei Jahren.
Sie hatte sich damals viel darüber geärgert und gekränkt, denn die Theres und überhaupt all ihre Altersgenossinnen, die mit ihr bei den verschiedenen Schneiderinnen nähen gelernt hatten, waren schon diese lästige Übergangsform los und zu richtiggehenden Menschen geworden. Nur sie hatte sich sehr geschämt und ihre Kolleginnen angelogen, daß sie bereits entjungfert worden ist. Die Theres hatte es ihr geglaubt, denn sie hatte sie einmal mit einem Konditorlehrling aus der Schellingstraße im Englischen Garten spazieren sehen und sie konnte es ja nicht gewußt haben, daß dieser junge Mann auf folgender Plattform gestanden ist: je größer die himmlische, um so kleiner die irdische Liebe. Er ist ein großer himmlischer Lügner und irdischer Feigling gewesen, nämlich er hatte sich selbst befriedigt.
Als Agnes einsah, daß diese bequeme Seele sie pflichtbewußt verkümmern ließ, hing sie sich an einen anderen Konditorlehrling aus der Schellingstraße. Der hätte Friseur sein können, so genau kannte er jedes Rennpferd und die Damenmode. Er schwärmte für Fußball, war sehr belesen und überaus sinnlich. Als er aber erfuhr, daß sie noch Jungfrau ist, da lief er davon. Er sagte, das hätten sich die Südseeinsulaner schon sehr nachahmenswert eingerichtet, daß sie ihre Bräute durch Sklaven entjungfern lassen. Er sei weder ein dummer Junge noch ein Lebegreis, er sei ein Mann und wolle ein Weib, aber keine Kaulquappe, und übrigens sei er kein Sklave, sondern ein Südseeinsulaner.
Sie wurde dann endlich, nachdem sie schon ganz verzweifelt war, von einem Rechtsanwalt entjungfert. Das begann auf dem Oktoberfest vor der Bude der Lionella. Diese Lionella war ein Löwenmädchen mit vier Löwenbeinen, Löwenfell, Löwenmähne und Löwenbart und Agnes überlegte gerade, ob wohl diese Lionella auch noch Jungfrau sei, da lernte sie ihren Rechtsanwalt kennen. Der hatte bereits vier Maß getrunken, rülpste infolgedessen und tat sehr lebenslustig. Sie wollte zuerst noch einige andere Mißgeburten sehen und er kaufte die Eintrittskarten, denn er hatte eine gute Kinderstube. Dann fuhren sie zwei Mal mit der Achterbahn und zwei Mal auf der Stufenbahn. Sie aßen zu zweit ein knuspriges Huhn, er trank noch vier Maß und sie drei. So hatten beide ihren Bierrausch, er verehrte ihr sein Lebkuchenherz, ließ sie noch im Hippodrom reiten und fuhr sie dann mit einem Kleinauto in seine Kanzlei. Dort warf er die Akten eines Abtreibungsprozesses vom Sofa und endlich wurde Agnes entjungfert. Das Sofa roch nach Zigaretten, Staub, Kummer und Betrug und Agnes zitterte, trotz ihrer wilden Entschlossenheit ein Mensch zu werden, vor dem unbekannten Gefühl. Sie spürte aber nicht viel davon, so neugierig war sie und der Rechtsanwalt merkte es g