Wie wir leben wollen
Ulrike Draesner
Das Kind mit den nichtgrünen Augen
Wir reisen durch Polen und haben eine Schnapsidee: Woher kommt unser Name? Das hat uns noch nie interessiert, aber hier haben wir nichts zu tun. Im Archiv der Stadt Wroclaw kennt man solche wie uns nicht, wir sind zu jung für das, was wir suchen, man sagt, "Das deutsche Register war geflutet, verschwunden, gelöscht, seit 1989 nimmt es zu wie der Mond." Als es sich endlich finden lässt, läuft es rückwärts: Zunächst ist alles säuberlich getippt, Anfang des 20. Jahrhunderts verschwindet die Maschinenschrift, dann lösen die Tabellenlinien sich auf, und es herrscht immer dichteres Gekrakel. Nur eines bleibt gleich: Ständig kommen Namen hinzu, die gelöscht werden. Sie entstammen den Sprachen P oder D, stehen halb auf, halb unter den Zeilen - Haken dort, Zischlaut da, schräge Flügel, weibliche Augen. Über den familichen Namen erklärt all dies nichts, nur dass wir ihn jetzt familich nennen, wie er über die Jahrhunderte Namen aufsaugte, sich männlich gab und dabei sein D um das P drehte und andersherum. Wir sind nicht verlegen, wir haben studiert und erklären rasch: Unklärbar ist gut. Man muss nicht jedem auf die Nase binden, dass wir uns unter einer Namensdecke verstecken, die tiefslawischen Sümpfen entspringt und nichts anderes tut, als von Morastigkeit, Zähigkeit und augengrüner Undurchdringlichkeit zu sprechen, womit selbstverständlich unser Augengrün gemeint ist, das auch nicht jedes Kind erbt.
Grenzkontrolle Berlin-Schönefeld. Der Beamte plustert die Wangen auf, runzelt die Stirn und sagt zu meiner nichtgrünäugigen Tochter: "Wen hast du mir denn da mitgebracht?"
"Meine Mama", sagt sie, akzentfrei. Deutsch ist ihre Muttersprache, ihr Pass ist deutsch, also ist sie es vermutlich auch. All diese Sätze denke ich nur. Bildbetrachtungen unter Staatskappen, Passbildbetrachtungen durch Menschen statt Maschinen soll man genießen, nicht stören. Der Mann empfiehlt, das Bild des Kindes erneuern zu lassen. Auf dem Foto zählt es fünf Jahre. Heute ist es neun. Unsicher greift es nach meiner Hand.
Im Wartebereich vor dem Gate trinken wir etwas. "Was hätten wir gemacht, wenn er mich nicht durchgelassen hätte?" Nein, das fragt es nicht.
Das Kind fragt: "Warum glaubt er mir nicht?"
Frankfurt 2009. Wir reisen ein. Das Kind hat einen Pass aus Sri Lanka, ein Visum für Deutschland. Dafür standen wir eine Woche Schlange in Colombo, in Ämtern jeder Art. Das Visum wurde ohne Umstände ausgestellt, es erteilte dem Kind eine Arbeitserlaubnis für drei Jahre.
Wir leben in einer Großstadt, privilegiert, reichlich gentrifiziert. Die meisten Menschen in unserem Umfeld schreiben sich Toleranz auf die Ichfahnen, auch wenn man hier vielleicht von Fahnen nicht reden will. Die Diskriminierung, auf die wir zunehmend stoßen, ist anderer Art. Sicherheitsdiskriminierung. Das nichtgrünäugige Kind könnte muslimisch sein, ein Flüchtling, illegal - geraubt oder selbst Räuberin. Ausgesprochen wird davon nichts, alles bleibt unsichtbar, hängt als Wolke über uns. Für Sicherheitsdiskriminierung gelten die Regeln der politischen Korrektheit nicht. Sicherheitsdiskriminierung ist ehrlich: Sie zeigt, was wir sehen. Und was wir denken. Dort, wo wir "es", "das", "das Diskriminierende", dieses "die sind anders" nicht denken sollen und/oder von uns glauben wollen, so nicht (mehr) zu denken.
Am Flughafen dürfen Hautfarben- und Herkunftsdiskriminierung nach außen treten, während man in anderen Lebenszusammenhängen so tut, als sähe man nichts. Obwohl jeder etwas sieht und von jedem anderen weiß, dass er etwas sieht, was derjenige, der nicht grünäugig ist, am deutlichsten weiß, sieht und spürt. Einen Spiegel braucht er dafür nicht; seine Nichtgrünäugigkeit kommt ihm in der Reaktion seiner grün-, braun- oder blauäugigen Gegenüber entgegen: dort als Großfreundlichkeit, da als Maske, als Säuseln der Stimme, als die Bemühtheit des Typus "nette Tante", a