Ist echte Erkenntnis möglich?
1. Aufgabe der Erkenntnistheorie
1.1. Entwicklung der erkenntnistheoretischen Probleme
Der beunruhigende Widerstreit der Weltanschauungen hat dem menschlichen Geiste frühzeitig mancherlei unser Erkennen betreffende Probleme aufgedrängt. Schon vorsokratische Denker haben sich gefragt, woher dieser Widerstreit stamme. Sie wurden so darauf aufmerksam, dass die echten oder vermeintlichen Erkenntnisse aus verschiedenen Ursprüngen oder "Quellen" sich herleiten. Als solche kamen insbesondere Wahrnehmung oder Erfahrung auf der einen Seite, Denken oder Verstand auf der anderen in Betracht. So ergab sich die Frage, ob die Erfahrung oder der Verstand die Quelle der echten Erkenntnis, die Grundlage gesicherter Wahrheit darstelle. Der Empirismus sieht in der Erfahrung, der Rationalismus im Verstand das einzige oder doch das wichtigste Fundament der Erkenntnis. Der Gegensatz von Empirismus und Rationalismus durchzieht die Geschichte der Erkenntnistheorie bis in unsere Tage.
Der tief greifende Widerstreit der Überzeugungen, der vermeintlichen Erkenntnisse, ließ bald auch die Frage auftauchen, ob überhaupt echte Erkenntnis möglich sei. Der erkenntnistheoretische Nihilismus bestreitet dies, und der extreme Skeptizismus kommt ihm nahe, indem er alle Erkenntnis in Zweifel zieht. Doch gewinnt man z. B. bei Betrachtung einfacher mathematischer Urteile, wie 2x2 = 4, sogleich den Eindruck, dass es' unzweifelhaft sichere Erkenntnisse gibt. Andere Überzeugungen, z. B. manche metaphysische Lehren, sind strittig und sehr dem Zweifel ausgesetzt. So ergibt sich die Frage, auf welchen Gebieten, in welchem Umfange, bis zu welchen Grenzen ein Erkennen möglich ist.
Die Frage nach den Grenzen des Erkennens hängt mit der Frage nach seinen Grundlagen offenbar eng zusammen. Von den Grundlagen unseres Erkennens, die in unserer Erfahrung und in unserem Denken gegeben sein mögen, wird die Reichweite unseres Erkennens wohl abhängen.
Der Widerstreit der philosophischen Lehren führte ferner bereits im Altertum zu der Frage nach einem Kennzeichen, einem Kriterium der Wahrheit, das den Forscher befähigen sollte, die echte Erkenntnis von irrtümlichen Überzeugungen zu sondern. Auch diese Frage nach dem Wahrheitskriterium hängt mit dem Grundlagenproblem eng zusammen; die Erfahrung z. B. kommt zugleich als Grundlage der Erkenntnis und als Kriterium, als Prüfstein der Wahrheit in Betracht.
Die untereinander zusammenhängenden Fragen nach Ursprung, Quellen oder Grundlagen, nach Möglichkeit, Umfang und Grenzen, nach Kriterien der Erkenntnis usw. fordern eine zusammenhängende wissenschaftliche Bearbeitung und legen uns so die Idee einer Wissenschaft, einer "Theorie" des Erkennens nahe.
1.1. Psychologie des Erkennens und Erkenntnistheorie
Das Erkennen ist wie das Fühlen und das Wollen ein seelisches Geschehen, und es ist daher von der Seelenlehre, der Psychologie, zu erforschen. So konnte leicht die Meinung entstehen, die Erkenntnistheorie sei mit der Psychologie des Erkennens identisch oder bilde einen Teil derselben.
Dieser extrem "psychologistischen" Meinung gegenüber müssen wir feststellen, dass Erkenntnistheorie und Psychologie des Erkennens ganz verschiedene Aufgaben haben.
Die Psychologie ist eine Wissenschaft von den wirklichen seelischen Tatsachen, eine "Realwissenschaft" vom Seelischen, die diese Tatsachen des Erkennens, Fühlens usw. zu beschreiben, zu ordnen, zu erklären und ihren tatsächlichen Ursprung festzustellen hat. Da es zur Wahrheit wie zum Irrtum führende Prozesse im Erkenntnisleben gibt, hat die Erkenntnispsychologie jene wie diese tatsächlichen Prozesse zu beschreiben und zu erklären.
Man kann aber eine echte oder vermeintliche Erkenntnis noch von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachten als dem tatsachenwissenschaftlichen der Erkenntnispsychologie, nämlich vom Gesichtspunkte des Zieles oder Ideals